Geschwisterposition und Persönlichkeit
Die ersten Lebensjahre sind besonders prägend. Eltern, aber auch Geschwister nehmen großen Einfluss auf uns. Dementsprechend könnte sich auch die Geschwisterreihenfolge auf die individuelle Entwicklung auswirken. Maßgebliche Bedeutung für bestimmte Zuschreibungen haben die Thesen des amerikanischen Psychologen Frank Sulloway. In seinem Mitte der Neunziger Jahre publizierten Werk „Born to Rebel“ („Der Rebell der Familie“) kategorisiert er verschiedene Eigenheiten je nach Position in der Geschwisterreihe. Typische Grundannahmen sind:
1. Erstgeborener: Das älteste Kind
Häufig haben Erstgeborene es etwas schwerer: Die Eltern sind noch unerfahren und wollen alles richtig machen. Dementsprechend müssen die Ältesten ihre Rechte durchboxen. Gleichzeitig bekommen sie noch die größte elterliche Aufmerksamkeit. Viele Forscher vermuten, dass sich die Erstgeborenen in ihren Werten oft an den Eltern orientieren, da sie von Erwachsenen umgeben seien. Sie wollen alles richtig machen und sind eher konservativ. Häufig müssen sie früh Verantwortung übernehmen und beispielsweise auf die jüngeren Geschwister aufpassen. Denen dienen sie meist als Vorbild. Diese Geschwisterposition zeige sich auch im späteren Berufsleben: So seien Erstgeborene häufiger in Führungspositionen als ihre jüngeren Geschwister.
2. Sandwich-Kind: Das mittlere Kind
Das mittlere Kind hat eine Sandwichposition. Einerseits ist der Erwartungsdruck geringer als bei Erstgeborenen, daher können mittlere Kinder eher ihren Weg gehen. Aber das Sandwich-Kind muss sich seine Eltern mit zwei weiteren Geschwistern teilen. Das könne laut Salloway dazu führen, dass das Selbstwertgefühl angeknackst sei. Es muss nicht mehr so viele Dinge erkämpfen, gleichzeitig wird es nicht so verhätschelt wie das Letztgeborene. Da es nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern hätte, kompensiere das mittlere Kind über seine sozialen Kontakte. Der Freundeskreis übernimmt zum Teil diese Funktionen. Das Sandwich-Kind sei daher sehr viel kontaktfreudiger und verständnisvoller. Außerdem sei es aufgrund seiner Position oft diplomatisch veranlagt.
3. Letztgeborener: Das jüngste Kind
Das letzte Kind gilt oft als Nachzügler oder Nesthäkchen. Die Eltern sind mittlerweile deutlich entspannter, was die Erziehung und Zugeständnisse anbelangt. Salloway zufolge werde das jüngste Kind häufig verwöhnt. Es registriere die Freiheiten der beiden älteren Geschwisterkinder. Daher traue es sich mehr aufzumucken und Risiken einzugehen. Das Letztgeborene lerne viel durch Beobachten. Auch sei das jüngste Kind deutlich verspielter, aber auch sehr spontan. Für diese Theorie gibt es etliche Belege: So sind berühmte Comedians wie Hape Kerkeling, Otto oder Bülent Ceylan die Jüngsten in der Geschwisterreihenfolge.
Einzelkinder brauchen andere zum Lernen
Einzelkindern sagt man nach, sie seien egoistisch und verwöhnt. Dazu ist anzumerken, dass selbst jedes erstgeborene Kind anfangs ein Einzelkind ist. Durch die Geschwister lernt es jedoch verschiedene soziale Kompetenzen. Zum Beispiel Durchsetzungsfähigkeit, Frustrationstoleranz, aber auch Kompromissfähigkeit und Empathie. Schließlich sind Geschwister die erste soziale Gruppe. Und der Wunsch nach Anerkennung und Gesellschaft durch andere ist dem Menschen quasi in die Wiege gelegt.
Ob Perfektionismus und Egoismus bei einem Einzelkind vorkommen, ist offenbar eine Frage der Erziehung. Eine Studie der Universität Glasgow konnte beispielsweise keine Verhaltensbesonderheiten zwischen Einzelkindern und solchen mit Geschwistern feststellen, da die Eltern den „Geschwistermangel“ anderweitig ausglichen. Allerdings sind Einzelkinder oftmals sprachgewandter. Grund dafür ist, dass sie hauptsächlich Eltern und andere Erwachsene als Gesprächspartner haben.
Psychologie: Geschwisterreihenfolge kaum relevant für Big Five
Die Geschwisterreihenfolge kann sich niemand aussuchen. Und dass sie Auswirkungen darauf hat, wie Eltern ihre Kinder erziehen, ist in der Geschwisterforschung unbestritten. Andererseits vertreten einige Psychologen die Auffassung: Ob jemand als Erstgeborener, Sandwich-Kind oder Nesthäkchen auf die Welt kommt, hat kaum Einfluss auf den Charakter. Zumindest nicht auf die grundlegenden Eigenschaften (in der Psychologie als Big Five bekannt). Schließlich gibt es ja auch noch ein soziales Umfeld aus Großeltern, Freunden, Mitschülern.
Zu dem Ergebnis kommen beispielsweise Forscher um Ralph Hertwig, Leiter vom Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut. Mithilfe umfangreicher Datensätze aus dem Sozioökonomischen Panel untersuchten sie die Risikobereitschaft von Menschen. Die Theorie besagt, dass die Letztgeborenen besonders risikobereit seien, beispielsweise mit Blick auf das Fahrverhalten mit dem Auto oder beim Aktienkauf. Allerdings ließ sich in 96 Prozent aller Fälle kein Zusammenhang zwischen der Geschwisterreihenfolge und der Risikobereitschaft der Befragten feststellen. Auch die Ergebnisse der „Basel-Berlin Risk Study“ lassen keinen Zusammenhang erkennen.
Höhere Risikobereitschaft aufgrund Selbstüberschätzung
Sulloway hatte im historischen Vergleich festgestellt, dass besonders viele Revolutionäre allesamt Nesthäkchen waren. Das verleitete ihn zu der Annahme, dass die Jüngsten in der Geschwisterreihenfolge besonders mutig seien. Hertwig hingegen kommt zu einem anderen Ergebnis. So lässt sich in der Tat eine höhere Unfallrate bei Nesthäkchen beobachten.
Seiner Meinung nach sei diese allerdings weniger auf höhere Risikobereitschaft als eher auf eine Art Selbstüberschätzung zurückzuführen: Jüngere Geschwister sehen, was die älteren bereits können und wollen nacheifern. Allerdings sind sie zu dem Zeitpunkt mitunter noch motorisch und mental unterlegen. Was von außen betrachtet nach Draufgängertum aussieht, hat in Wirklichkeit andere Ursachen.
Geschwisterreihenfolge wirkt sich geringfügig auf Intelligenz aus
Auch wenn die Geschwisterreihenfolge anscheinend nur geringe Auswirkungen auf die Charaktereigenschaften hat: Völlig belanglos ist sie nicht. So lassen sich beispielsweise Unterschiede beim Intelligenzquotienten (IQ) nachweisen. Demnach haben Erstgeborene gegenüber den Spätgeborenen einen höheren IQ. Das zeigt eine Untersuchung des norwegischen Militärs. Allerdings ist dieser mit 2,3 Punkten nur geringfügig höher, so dass sich das im Alltag kaum auswirke. Andererseits lasse sich in über 40 Prozent aller Fälle zeigen, dass der jüngere Bruder oder die jüngere Schwester den höheren IQ habe. Das konnten Psychologen der Universitäten Leipzig und Mainz nachweisen.
In anderer Hinsicht scheint die Geschwisterreihenfolge dennoch prägend zu sein. Das haben Wissenschaftler vom Forschungszentrum Demografischer Wandel (FZDW) der Frankfurt University of Applied Sciences herausgefunden. Sie widmeten sich in ihren Forschungen vor allem dem Nesthäkchen. Dazu werteten sie Ergebnisse einer jährlich durchgeführten Langzeitstudie zum Thema „Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“ aus. Darin wurden Siebtklässler mit bis zu zwei Geschwistern zu Persönlichkeitseigenschaften befragt. Genauer: Wie leicht sie mit Eltern über wichtige persönliche Dinge reden könnten.
Das Interessante: Einzelkinder hatten die wenigsten Probleme, Sandwichkindern fiel das deutlich schwerer. Aber ausgerechnet das Nesthäkchen, das als unbefangen gilt, scheint die größten Schwierigkeiten zu haben. Und das, obwohl es bisherigen Theorien zufolge die meiste elterliche Aufmerksamkeit für sich verbuchen konnte. Auch seien der Studie zufolge die jüngsten Kinder emotional labiler und furchtsamer.
3 Tipps im Hinblick auf Geschwisterpositionen
Je nachdem, in welcher Geschwisterreihenfolge ein Kind sich befindet, sollten Großeltern und Eltern mit dem Kind umgehen. Einige Tipps dazu:
Mehr Rechte, mehr Verantwortung
Das Erstgeborene ist älter und sollte entsprechend mehr Rechte haben. Mit Blick auf die Schlafenszeit sollte der oder die Älteste beispielsweise länger aufbleiben dürfen. Gleichzeitig sollten Erwachsene signalisieren, dass sie dem Erstgeborenen auch mehr zutrauen. Sie können ihm schon kleinere Aufgaben im Haushalt auftragen.
Keine Vergleiche, keine Subbotschaften
Aufgrund der Geschwisterreihenfolge kann es verlockend sein, Vergleiche zwischen dem Erst- und dem Zweitgeborenen oder dem Nesthäkchen zu ziehen. Davon sollten Eltern und Großeltern unbedingt absehen. Ebenso wie Sie nicht andere Kinder als leuchtendes Beispiel präsentieren sollten. Das fördert nur die Geschwisterrivalität und Eifersucht.
Mehr Fairness, weniger Bevorzugung
Auch wenn es mit einem Kind häufiger Stress gibt: Eltern und Großeltern sollten darauf achten, keineswegs die anderen Geschwisterkinder zu bevorzugen. Dazu gehört, bei Streit nicht Partei für eins der Kinder zu ergreifen. Versuchen Sie stattdessen lieber, beide Seiten zur Versöhnung zu bewegen.
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