Gehaltsvorstellungen zurückschrauben: Warum?
Zugegeben, die Entscheidung ist gar nicht so leicht. Lieber der Spatz in der Hand (also überhaupt einen Job und ein Einkommen) als die Taube auf dem Dach?
Zunächst einmal hängt die Antwort entscheidend von der persönlichen und aktuellen (finanziellen) Situation ab. Denn die Zeit läuft ab. Im Alter von 55+ bleiben einem nicht mehr allzu viele Jahre bis zur Rente. Sicher, zwölf Jahre sind auch nicht nichts. In der Zeit kann man gut noch eine neue Karriere starten.
Je länger Sie aber mit dem Wiedereinstieg warten, Jobangebote ablehnen, desto größer wird die Lücke im Lebenslauf – und mit ihr sinken zugleich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Ein paar Monate ohne Job sind kein Beinbruch. Auch ein Jobverlust kommt heute in nahezu jeder Laufbahn vor. Das reduziert noch nicht Ihre Erfahrungen und Qualifikationen. Dauert der Übergang in den nächsten Job absehbar aber länger als vier bis sechs Monate, sollten Sie aktiv werden. Zum Beispiel, indem Sie Ihre Wissen mit einer Weiterbildung aufwerten oder sich um eine Hospitation bemühen, um Ihren Horizont zu erweitern.
Warum aber sollte man im Alter überhaupt seine Gehaltsvorstellungen herunterschrauben?
Dazu müssen wir ein bisschen ausholen und die Situation gründlicher analysieren:
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Einkommensentwicklung im Alter
Sie wissen, das Einkommen beziehungsweise Gehalt ist vor allem abhängig von der Position, der Branche, Unternehmensgröße und Region, in der Sie sich bewerben. Allein dadurch variieren die Angebote enorm.
Hinzu kommen Globalisierung, Digitalisierung und Arbeitsplatzverlagerung in Billiglohnländer. Das alles drückt bereits die Gehälter über alle Altersgruppen hinweg. Wenn Sie sich jetzt aber auf Position und Stellenanzeigen bewerben, die davon stärker betroffen sind, lässt sich nur schwer begründen, warum ausgerechnet Sie Ihr Einkommensniveau mindestens halten wollen, während alle anderen den Gürtel enger schnallen, um ihren Job überhaupt zu behalten.
Es ist kein ehernes Gesetz, dass die Gehaltsentwicklung nur eine Richtung kennt: nach oben. Im Gegenteil: Gerade bei einem unfreiwilligen Jobwechsel im Alter ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie Ihre Gehaltsforderungen nach unten anpassen müssen (siehe nächster Punkt).
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Marktwert im Alter
Klassisch können Arbeitnehmer mit steigenden Berufsjahren auch Ihr Gehalt verbessern. Dieses spiegelt die Verantwortung der Position, das Know-how und die Kontakte des Arbeitnehmers wider. Nicht wenige Unternehmen honorieren damit zugleich die Loyalität und Betriebszugehörigkeit. Das Gehalt wird damit zu einer Art Halteprämie.
Doch das kann sich auch schnell wieder ändern – zum Beispiel wenn das Unternehmen in Schieflage gerät und den Rotstift ansetzen muss. Wer dann den Job wechseln muss, sollte selbstkritisch prüfen, wie hoch sein Marktwert tatsächlich ist – und wie viele Aufschläge im aktuellen Gehalt das vernebeln.
Wenn etwa das Expertenwissen inzwischen veraltet ist oder kaum noch nachgefragt wird; wenn die Kontakte und Erfahrungen für den neuen Arbeitgeber kaum nutzbar und damit wenig wertvoll sind, drückt das den Marktwert enorm. Auch ein vertragliches Wettbewerbsverbot, ein schlankeres Aufgabenprofil oder eine geringere Verantwortung im Job lassen den Marktwert sinken. Vor diesem Kontext können durchaus manche Gehaltsforderungen zu hoch sein.
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Lebensstandard im Alter
Nicht wenige Arbeitnehmer versuchen im Alter ihren bis hierhin erworbenen Lebensstandard zu halten. Motto: Das hab ich mir schließlich aufgebaut und verdient! Menschlich ist das nachvollziehbar. Nur realistisch ist dies nicht immer.
Machen Sie sich bewusst, Arbeitgeber sind nicht dazu da, Ihnen einen gewissen Lebensstandard zu sichern. Sie haben es hier mit einem Arbeitsmarkt zu tun – auch auf dem bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis (sprich: das Gehalt). Machen Sie sich bitte frei von dem Gedanken, Gehaltseinbußen senken zugleich Ihren Wert. Was war, kann Ihnen keiner nehmen. Aber wenn Sie sich aktuell bewerben, dann zählt allein, welchen Mehrwert Sie künftig liefern können. Und natürlich wissen auch Arbeitgeber, dass ältere Mitarbeiter öfter und länger krank werden (können).
Bleiben Sie bei Ihren Gehaltsforderungen also realistisch. Prüfen Sie ehrlich und objektiv Ihren aktuellen Marktwert – und nicht nur, was Sie gerne verdienen würden. Womöglich schränkt Sie der Einkommensverlust im Lebensstandard auch gar nicht so sehr ein, wie Sie meinen.
Wer Alternativen hat, verhandelt besser
In immer mehr Stellenanzeigen werden Bewerber heute aufgefordert, Ihre Gehaltsforderungen beziehungsweise Gehaltsvorstellungen zu nennen. Vielen ist das unangenehm. Zudem steckt darin ein veritables Dilemma: Sind Ihre Gehaltsforderungen zu hoch, schießen Sie sich gleich ins Aus. Sind die Gehaltsvorstellungen indes zu niedrig, macht das auch keinen guten Eindruck: Da kennt jemand offenbar nicht mal seinen Marktwert…
Hinzu kommt, dass sie Gehaltsforderungen, die zu niedrig waren, später in der Verhandlung kaum noch signifikant steigern können. Es sei denn, Sie haben genug Alternativen.
Daher lautet die Grundregel beim einem Jobwechsel: Bewerben Sie sich auf mehrere Stellen und immer weiter. Solange, bis die Tinte unter dem neuen Arbeitsvertrag trocken ist. Sie verlieren sonst nur kostbare Zeit – und schwächen obendrein Ihre Verhandlungsposition.
Gehaltsforderungen reduzieren oder weitersuchen?
Welche Gehaltsforderungen sind also im Alter realistisch und müssen Sie diese zwangsläufig reduzieren?
Ganz so pauschal lässt sich die Frage nicht beantworten. Das erkennen Sie schön an obiger Analyse. Ob Sie weitersuchen oder ein finanziell unattraktives Jobangebot annehmen, hängt letztlich von Ihnen und vom Markt ab.
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Anzahl der Jobangebote
Falls bei der vergangenen Jobsuche immer wieder Einladungen zum Vorstellungsgespräch und auch konkrete Vertragsangebote (nur nicht besonders gut bezahlte) erhalten haben, dürfen Sie das positiv werten: Sie und Ihre Qualifikationen sind immer noch gefragt. Womöglich lohnt es sich, künftig noch überzeugender zu verhandeln und auf das passende Angebot zu warten.
Bewerben Sie sich allerdings schon seit mehr als drei Monaten vergeblich, ohne dass Sie jemals eingeladen worden wären, kann das ein Warnsignal sein. In dem Fall sollten Sie nicht nur Ihre Bewerbungsunterlagen (durch einen Profi) optimieren (lassen), sondern auch etwaige Gehaltsforderungen kritisch prüfen. Sie könnten zu hoch liegen.
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Zeit zur Verfügung
Ebenso relevant ist natürlich die Frage, wie lange Sie ohne ein festes Einkommen auskommen können: Wie lange reichen die finanziellen Rücklagen?
Wie oben schon angesprochen, ist die Zeit hier nicht Ihr Freund. Je mehr davon verstreicht, desto größer die Lücke im Lebenslauf und desto größer der finanzielle (und mentale) Druck. Manchmal ist es klüger, ein schlechteres Angebot anzunehmen, um überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen. Diskret weiterbewerben können Sie sich dann immer noch – nur jetzt aus ungekündigter Position. Außerdem muss das Einstiegsgehalt im neuen Job nicht das Endeinkommen der nächsten zwölf Jahre sein.
Natürlich ist die zuletzt genannte Strategie nur eine Notlösung. Wer regelmäßig noch innerhalb der Probezeit den Job wechselt, beschädigt seinen Lebenslauf nachhaltig.
Manchmal kann das allerdings den Druck rausnehmen und eine längere Arbeitslosigkeit vermeiden helfen. Und der Spatz in der Hand entpuppt sich bei genauem Hinsehen manchmal als gar nicht so unattraktiv wie anfangs angenommen.
Über den Autor
Jochen Mai ist Gründer und Chefredakteur von Karrierebibel.de – dem größten deutschen Job- und Karriereportal mit rund 4 Millionen Lesern jeden Monat. Der Karriereexperte doziert zudem an der TH Köln über Social Media Marketing und ist gefragter Keynote-Speaker. Zuvor war der Diplom-Volkswirt mehr als 20 Jahre als Journalist tätig – davon 13 Jahre als Ressortleiter der WirtschaftsWoche. Eindrücke von seinen Vorträgen erhalten Sie unter anderem auf Karrierebibel TV.